„Bei meinen Großeltern hing noch eine Landkarte an der Wand, auf der der Vormarsch der Nazis eingezeichnet war. Das war immer in ihrem Bewusstsein. Zu stark waren die schrecklichen Erinnerungen. Doch mit der neuen Generation ändert sich das.“ [1]

Das sagte nach der Fußballweltmeisterschaft 2006 der englische Fußballkommentator Oliver Holt, wohl positiv gemeint. Und was war das auch für eine unbeschwerte Zeit, konnte sich Deutschland, 13 Jahre nach der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl, mal wieder weltoffen zeigen. Neben der positiven Rezeption der WM  im Ausland (Korruption bei der austragenden FIFA gab es damals noch nicht) war es vor allem die Selbstwahrnehmung und Darstellung der Deutschen, die nachhaltig verstörte. Zumindest einige.

Und ihr demonstriert Verbrüderung

Es war – und ist – die Rede vom Sommermärchen: weil alle sich so einig waren, Fahnen im Gesicht und am Körper tragend, aus dem Fenster hängend – und sogar an des Deutschen liebster Nebensache: dem Auto. Überall im Land waren im Sommer 2006 Fahnen, ein schwarz-rot-golden-feuchter Traum der zu lange stillen Patriot:innen. Während im April jene Fahnen zur Vorbereitung des großen Volksfestes aus den Niedriglohnfabriken in alle Geschäfte gepackt wurden, konnte der NSU gedeckt und geduldet von Sicherheitsbehörden Mehmet Kubaşık und Halit Yozgat ermorden.

Und dann kam der Sommer, das Märchen, das für viele Deutsche seitdem heißt: ‚endlich wieder stolz sein‘ können bzw. dürfen (Affekte, ick hör euch trapsen!), endlich ungehemmt „(Deut)schland“ rufen. Endlich wieder schamlos ein Volk, eine Einheit, eine (Leit-)Kultur konstruieren und diesen frönen.

Umgekehrt heißt das: endlich wieder Menschen ausschließen dürfen, Feindbilder aufbauen, verfolgen und vernichten (dürfen). Zu Märchen gehört die dualistische Konstruktion von Gut und Böse, und in diesem Märchen, welches vielleicht noch deutscher ist als das Nibelungenlied, war es entsprechend: gut sind ‚WIR‘, die mit Fahnen schwankenden Deutschen, böse sind die Anderen.„fremde“ Fußballfans kann man meist noch einige Wochen tolerieren, aber wehe eine:r möchte nicht mitmachen beim Taumel(n). Das zusammenschweißende Element des Fußballs beschrieb Adorno so:

„Wird eine Fußballweltmeisterschaft vom Radio übertragen, […] so mögen selbst spektakulär verschlampte Gammler und wohlsituierte Bürger in ihren Sakkos einträchtig um Kofferradios auf dem Bürgersteig sich scharen. Für zwei Stunden schweißt der große Anlass die gesteuerte und      kommerzialisierte Solidarität der Fußballinteressenten zur Volksgemeinschaft zusammen. Der kaum verdeckte Nationalismus solcher scheinbar unpolitischen Anlässe von Integration verstärkt den Verdacht ihres destruktiven Wesens.“[2]

Wie die deutsche Fußballnationalmannschaft dann 2006 abschnitt, war schnell egal. Es hat die deutschtümelnden Ungeheuer vielleicht ein paar Tränen gekostet, aber man fühlte sich ja als Sieger der Herzen, zum Dritten mal innerhalb von 100 Jahren.

Die meisten motteten dann ihre Fähnchen für vier Jahre ein (einige eisern überzeugte ließen das Gelb noch vollends ausbleichen), die waren aber auch nicht mehr nötig. Was sich seit 2006 nun anlässlich jedes großen (gut, groß ist in Deutschland doch eigentlich nur ‚König Fußball‘, diese testosterongeschwängerte Adelsgestalt) Sportereignisses fahnenscheinig wiederholt, ist im politischen Diskurs unbeschwert konstant: Deutschland! Und mit Deutschland ist in der Regel deutsch gemeint, also: was und wer deutsch ist.

Kurze Zusammenfassung der immer gleichen Debatten:

Goethe, Bismarck, Jünger – Hui!

Islam, Schwarze und (oft verklausuliert) ‚das‘ jüdische[3] – Pfui!

80 Millionen Hooligans

Und ehe die emanzipatorische Linke ‚Ideologie‘ buchstabieren konnte, schminkte sich das ‚endlich wieder stolz sein dürfen‘-Gesicht die Streifen ab und zeigte seine ‚das wird man ja wohl noch sagen dürfen‘-Fratze.  Natürlich wurde des Deutschen liebste Konstruktion: ‚Wir und das Fremde‘ nicht erst 2006 erfunden, doch ist die Vehemenz und Selbstverständlichkeit, mit der seither die Möglichkeit und Notwendigkeit von Patriotismus herbeigeredet wird, von neuer Qualität (und Quantität). Und so sollten die Fahnenschwenker:innen schließlich bekommen, was sie immer wollten: Mistgabeln und Fackeln. 2010 erschien Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“, drei Jahre später die AfD, dicht gefolgt von Pegida, Hogesa und – der Rest ist Geschichte der Gegenwart. Indem die bürgerliche Gesellschaft in einem Akt der Abspaltung das Land vom Staat trennt wird der Patriotismus zum Apologeten seines großen Bruders, des (gewalttätigen) Nationalismus.

Wer das theoretische Hufeisen wirft und symbolischen Patriotismus, als gute, bürgerliche Version vom Nationalismus des tobenden Mobs trennt, differenziert gleich doppelt: „Wir // die Fremden“ sowie „Wir, die guten Patriot:innen // die ein bisschen zu ehrgeizigen Nazis“. Dass der 2006 heraufbeschworene, ‚unbeschwerte‘ Patriotismus dabei in weiten Teilen uniform zu seiner konsequent weiter gedachten Form ist, wird willentlich ignoriert beziehungsweise toleriert. Anlässlich 30 Jahre ‚Wiedervereinigung‘ sagte Thorsten Mense:

„Man muss sich klar machen, dass die autoritäre Revolte keine Bewegung gegen die selbsternannte Mitte und die deutsche Mehrheitsgesellschaft ist, sondern eine Entwicklung, die durch sie stattfindet. Das neofaschistische Milieu dient nur als Stichwortgeber.“[4]

Dass in Deutschland etwas fundamental falsch ist und es einer radikalen Kritik des Nationalismus bedarf, ist heute mehr denn je eine randständige Meinung.  Umso mehr wollen wir diese Kritik in verschiedenen Formen im Laufe des Jahres öffentlich machen. 15 Jahre nach der WM 2006, 10 Jahre nach Selbstenttarnung des NSU, 2 Jahre nach Halle, 1 Jahr nach Hanau…

…nie wieder Deutschland!


[1] ARD, ttt – titel, thesen, temperamente, 7. August 2006, Archiv.

[2] Adorno, Theodor W., 2003, Soziologische Schriften I, S.188f., Suhrkamp

[3] Die Aufzählung ist natürlich unvollständig, es fehlen quasi alle, die nicht weiß, männlich und heterosexuell sind.

[4] Auf dem sehr guten Re:Kapitulation-Kongress, nachzuhören hier: https://www.youtube.com/watch?v=EeavoiNuKnc ab ca. 1:24:30