Bereits in der Aufklärung wurde der Verfall der Religion mit der Entstehung moderner Wissenschaft und bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft beschrieben. Während Friedrich Nietzsche im 19.Jahrhundert Gott gerne für tot erklärt hätte, hatte Marx erkannt, dass die Religion weiterhin eine ideologische Funktion in der Gesellschaft erfüllte. Marx machte in seiner Ideologiekritik deutlich, dass die zugrundeliegende Ursache für die Hinwendung zur Religion, nämlich das Leiden der Individuen, aktiv bekämpft werden muss.
Obwohl ein unerwartetes Comeback der Religion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereits in den Ländern der ehemaligen Sovietunion deutlich zu beobachten war und die islamische Revolution im Iran bereits etwas mehr als 20 Jahre zurücklag, drang diese Entwicklung erst nach dem 11. September 2001 ins öffentliche Bewusstsein – zumindest in Nordamerika und Mitteleuropa.
Neben islamistischen Gruppierungen, sind es global betrachtet vor allem auch fundamentalistische Christ*innen, die politische und wirtschaftliche Macht aus klerikalen Strukturen schöpfen, um ihre religiösen Vorstellungen auf allen Ebenen der Gesellschaft durchsetzen zu können.
Religiös-Konservative und Fundamentalist*innen verstehen sich selbst als antimoderne Bewegungen und versprechen ihren Anhänger*innen Sinn, wo in der spätkapitalistischen Marktgesellschaft keiner zu finden ist.
Durch diese antimoderne Haltung entsteht eine Affinität zum Antisemitismus, da Jüdinnen*Juden im modernen Antisemitismus als Projektionsfläche sowie als personifiziertes Symbol für die Moderne und den Kapitalismus dienen. In aktuellen fundamentalistischen Strömungen vermischen sich oft moderner Antisemitismus und religiöser Antijudaismus.
Ebenfalls als Symbol für die Moderne dient ihnen der Feminismus, denn dieser wird für die “Zersetzung” religiöser Familienwerte verantwortlich gemacht, weshalb religiöser Konservatismus und Fundamentalismus nicht nur dezidiert antimodern, sondern auch antifeministisch ist.
Wir möchten uns in der Reihe Wahnhafte Erlösung – Religion und falsche Versöhnung mit gesellschaftlichen Widersprüchen mit aktuellen Phänomenen von religiösem Fundamentalismus und Konservatismus auseinandersetzen. Es geht uns dabei auch darum aufzuzeigen, wie marxistische, psychoanalytische und feministische Religionskritik helfen kann, diese Phänomene besser zu verstehen und bekämpfen zu können. Da die Vorträge alle einen Bezug zum deutschen und damit postnazistischen Kontext haben werden, haben wir uns bewusst dagegen entschieden, die Religionskritik auch auf das Judentum zu beziehen.