Das 1886 errichtete Haus war eines von schätzungsweise 42 bis 53 so genannten „Judenhäusern“ in Wiesbaden. Dabei handelte es sich um Immobilien, welche jüdischstämmigen Besitzer:innen durch Enteignung genommen wurden. Anschließend wurden von den Nazis als „Juden“ Verfolgte in diese Häuser zwangsumgesiedelt. Sie lebten in diesen Häusern unter engsten Bedingungen bis zu ihrer Deportation. Der Zweck solcher Häuser war es, die Kontrolle über die jüdischen Einwohner:innen zu erleichtern und gleichzeitig andernorts Wohnraum für Nichtjüd:innen zu schaffen.
Die rechtliche Grundlage hierfür wurde 1939 mit dem Gesetz über die „Mietverhältnisse mit Juden“ geschaffen. Die räumliche Ballung ermöglichte ein hohes Maß von Überwachung durch die Gestapo, also die „geheime Staatspolizei“, und weitere Repression, so zum Beispiel Ausgehverbote und das Verbot von Radios.
In diesem spezifischen Haus lebten seit 1920 der jüdische Rechtsanwalt Arnold Kahn, seine Frau Dorothea und Sohn Werner. Sie bekamen schon bald nach der Machtübernahme der NSDAP die zunehmende Repression zu spüren: Zwar war Arnold als „dekorierter Frontkämpfer“ im 1. Weltkrieg zunächst noch von dem im April 1933 erlassenen Berufsverbot für jüdische Rechtsanwälte ausgenommen. Zwei Jahre später wurde ihm aber bereits das Notariat entzogen. Er durfte ab 1937 gar nicht mehr praktizieren.
Auch sein Sohn Arnold erlebte in der Gutenbergschule den zunehmenden Antisemitismus von Mitschüler*innen und offiziellen Stellen. Er berichtet später von seinen Erinnerungen von folgendem Erlebnis:
„Ich denke auch an einen Lehrer. Leider weiß ich den Namen nicht mehr. Ich war in der Quinta, und er war mein Lehrer in Französisch. [… ] Eines Tages hatten wir irgendeine Feier in der Turnhalle, und es wurden die üblichen Nazilieder gesungen (wenn Judenblut vom Messer spritzt und alle Pfaffen tot sind, usw.) Nach der Feier hatten wir Französisch, und der Lehrer kam wütend in die Klasse und machte sehr starke Aussagen gegen diese Lieder, das damalige Deutschland und die Nationalsozialisten. Am nächsten Tag bekamen wir einen anderen Lehrer. Wir haben ihn nie wieder gesehen.“
Die Familie Kahn plante seit 1934 ihre Emigration in die USA, konnte diese aber erst 1937 umsetzen. Das Haus in der Adolfsallee wurde von Dorothea Kahns Eltern übernommen: dem ehemaligen Bankangestellten Felix Kaufmann und seiner Frau Johanna, genannt Jenny.
Nach dem Umzug nach Wiesbaden war das Ehepaar speziellen Abgaben und Einschränkungen durch das Finanzamt ausgesetzt. 1938 wurde Felix Kaufmann ohne Ankündigung der Zugriff auf sein Konto verwehrt. Die finanzielle Lage zwang ihn dazu, die Wohnungen in seinem Haus unter staatlichen Auflagen zu vermieten. Jüdinnen und Juden wurden mittlerweile kaum noch von nichtjüdischen Vermieter:innen akzeptiert. Daher sammelten sich jüdische Menschen häufig bereits unter beengten Zuständen in Häusern, die noch in jüdischem Besitz waren.
1942 zog das „Deutsche Reich“ dann das gesamte Vermögen der Familie Kaufmann ein. Am 28. Juni 1943 beantragte das Wiesbadener Finanzamt schließlich die offizielle Überschreibung dieses „Judenhauses“ an das „Deutsche Reich“.
Eine der hier lebenden Jüdinnen war Lina Neu. Ab März 1942 lebte sie in einem Zimmer im Erdgeschoss der Adolfsallee 30. Wenige Tage vor der ihr angeordneten Deportation nach Theresienstadt nahm sie sich am 26. August 1942 in ihrem Zimmer in der Adolfsallee das Leben, indem sie Gift schluckte.
Die Reaktion des Oberfinanzpräsidenten in Kassel zeigt wiederum die Unmenschlichkeit des bürokratischen Betriebs, der auch solche Ereignisse bis aufs Letzte ausnutzte. Er vermerkt zu Linas Tod:
„Auf Grund des §1 der VO des Herrn Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. 2. 1933 beschlagnahme ich hiermit mit Wirkung vom 1. 8. 1942 die gesamten inländischen Vermögenswerte folgender Juden, die nach Eröffnung der Evakuierungsvfg. verstorben sind: Neu, geb. Weisenfeld, Lina Sara, geb. 11. 1. 67, zuletzt in Wiesbaden Adolfsallee 30 wohnhaft, verstorben am 26. 8. 1942.“
Wenn wir genau hinschauen, sehen wir hier vorm Haus auch die Stolpersteine, die an das Ehepaar Kaufmann erinnern sollen. Das Haus wurde den Überlebenden der Familie erst 1949 zurücküberschrieben. Die Stadt führt es aufgrund seiner Architektur repräsentativ als „Kulturdenkmal“. Seine Geschichte als sogenanntes „Judenhaus“ wird aber weder hier noch an anderen betroffenen Häusern sichtbar gemacht.
Audioerklärung zur Stadtrundgangsstation „‚Judenhaus‘ Adolfsallee 30“: