In der Buchhandlung Dr. Otto Vaternahm wurden bei einer Razzia stapelweise Flugblätter der „Weißen Rose“ gefunden, besonders Exemplare des letzten Flugblatts: „Ein deutsches Flugblatt. Manifest der Münchener Studenten“.
Es ist nicht klar, inwieweit es einen direkten Kontakt von Wiesbadener Widerstandskämpfer:innen zu der Münchener Gruppe gab, oder ob es sich um Nachdrucke aus England handelte. Erst später wurde bekannt, dass Vaternahm Kontakt zum sogenannten „Freundeskreis Roos“ hatte, eben jener Widerstandsgruppe, die sich selbst „Die Kette“ nannte.
Dabei handelte es sich um ein eher loses Untergrund-Netzwerk von über 30 Menschen – den einzelnen „Perlen“ der Kette – die über informelle Verbindungen, Skatrunden, Spaziergänge usw. miteinander in Kontakt standen. Die meisten kamen aus dem Bürgertum und gehörten vor der NS-Zeit der liberalen DDP (Deutsche Demokratische Partei) oder der SPD an.
Im Mittelpunkt dieses Netzwerkes stand Heinrich Roos, der in den 20er Jahren ebenfalls Mitglied der DDP, sowie des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ war (einem von SPD, DDP und der Zentrumspartei gegründeten Wehrverband zum Schutz der demokratischen Weimarer Republik). Roos hatte eine Stelle im Steueramt in Wiesbaden. Zwar war er von den Nazis entlassen worden, klagte aber erfolgreich dagegen und wurde 1934 wieder eingestellt. In dieser Funktion half er Jüdinnen und Juden bei Zwangsverkäufen möglichst faire Preise zu erzielen.
Die Mitglieder der Gruppe „Die Kette“ sahen sich selbst in der politischen Überwinterung. Dies hieß aber keineswegs, dass sie passiv der Dinge harrten. Formen der Aktivität waren zum Beispiel Diskussionsrunden über unterdrückte Nachrichten, was an sich schon hochriskant für alle Beteiligten war. Darüber hinaus wurden Geld, Lebensmittel und Sachspenden zur Unterstützung Verfolgter gesammelt, insbesondere auch zur Unterstützung von jüdischen Menschen in Not. Der Gruppe gelang es über längere Zeit, den Verfolgern einen Schritt voraus zu bleiben. Denn ein Mitglied arbeitete als Telegrapheninspektor und ein anderes als Kriminalkommissar, und beide konnten wiederholt Warnungen über laufende Ermittlungen gegen das Umfeld der Gruppe weiterleiten.
Aus dem Freundeskreis heraus gab es aber auch Kontakte in andere politische Widerstandsgruppen. So war Roos selbst mit den Kommunisten Andre Hoevel und Adolf Noetzel befreundet. Letzterer wurde nach seiner Haftentlassung bei Roos zuhause gesund gepflegt. Eine weitere Verbindung bestand über Martin Nischalke zu der Gruppe um Wilhelm Leuschner und somit in den Kreis der Verschwörer:innen, die das gescheiterte Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 planten.
Zuletzt bleibt hier zu sagen, dass viele Mitglieder dieses Kreises die NS-Zeit auch aufgrund der Vorsicht bei allen Aktivitäten überlebten und auch zur politischen Reorganisation nach 1945 beitrugen.
Audioerklärung zur Stadtrundgangsstation „Die Widerstandsgruppe ‚Die Kette'“:
Quellen:
- Ulrich, Axel. Politischer Widerstand gegen das „Dritte Reich“ im Rhein-Main-Gebiet. Wiesbaden: Thrun-Verlag, 2005. (Besonders: S. 175-178, 190-191.)
- Zibell, Stephanie. „Stadtlexikon Wiesbaden: Roos, Heinrich“. www.wiesbaden.de. Zugegriffen 14. August 2015. http://www.wiesbaden.de/microsite/stadtlexikon/a-z/Roos__Heinrich.php.